Selten hat der Chef eines anderen EU-Staates so viel Wohlwollen von gewichtigen deutschen Intellektuellen erfahren, wie der Ex-Ministerpräsident Griechenlands, als er die Vorgaben des Euro-Gipfels zur Sanierung des griechischen Haushalts einem Referendum unterziehen wollte. Papandreou selbst bezeichnete sein kurzlebiges Vorhaben inzwischen als Fehler, wie Gerd Höhler in einem Nachruf auf dessen Regierung berichtet. Frank Schirrmacher hatte Papandreous Einfall dagegen als mutige Tat gewürdigt. Als werfe sich hier endlich einer dem Diktat der Märkte entgegen und bündle, wie der Winkelried aus der Schweizer Heldensage vom Kampf gegen Karl den Kühnen, die schweren Lanzen des Finanzkapitals in den Armen, um sie auf die eigene Brust zu lenken und damit der Demokratie eine Chance zu geben. Beifällig zitierte Frank Schirrmacher Papandreous Ansage: „Der Wille des Volkes ist bindend.“ Als ob der momentane Wille allein, gut oder böse und von wem auch immer, im Tohuwabohu der Schuldenkrise dauerhaft bindend sein könnte. Und wen sollte er binden? Eine Regierung, die unter dem Druck der Verhältnisse taumelt? Oder die anderen Regierungen der Eurozone?
Erneut einen Verfassungsprozess anbahnen?
Frank Schirrmacher erkannte in den Reaktionen auf die Ankündigung des Referendums Symptome eines pathologischen Verhaltens: „Entsetzen in Deutschland, Finnland, Frankreich, sogar in England, Entsetzen bei den Finanzmärkten und Banken, Entsetzen, weil der griechische Premierminister eine Volksabstimmung zu einer Schicksalsfrage seines Landes plant“. Papandreou tue nicht nur das Richtige, indem er das Volk in die Pflicht nehme. „Er zeigt auch Europa einen Weg. Denn in dieser neuen Lage müsste Europa alles tun, um die Griechen davon zu überzeugen, warum der Weg, den es zeigt, der richtige ist. Es müsste dann nämlich sich selbst davon überzeugen. Es wäre kein Prozess in Brüsseler Beton, an dessen Ende eine enthemmte Presse die Bundeskanzlerin als eine Art Gigantin zeichnete. Es wäre eine Selbstvergewisserung der gleichfalls hochverschuldeten europäischen Staaten, die sich endlich darüber Klarheit verschaffen könnten, welchen Preis sie für immaterielle Werte eines geeinten Europa zahlen wollen.“ (FAZ 2.11.) So gesehen wäre das griechische Referendum zum europäischen Orakel geworden.
Europa hätte sich nach Delphi begeben, um sein eigenes Schicksal zu erfahren. Etwas prosaischer hieß es in der gleichen Ausgabe im Kommentar Berthold Kohlers, auch Herausgeber der Zeitung, Papandreou spiele „alles oder nichts“. Tatsächlich hatte er einfach überreizt. Nachdem Frank Schirrmacher Papandreous Mutprobe gepriesen hatte, mochte Jürgen Habermas die sang- und klanglose Rücknahme des Vorhabens nicht kommentarlos lassen. „Rettet die Würde der Demokratie“ überschrieb die FAZ seinen Kommentar (5.11.) zu Frank Schirrmachers Artikel „Demokratie als Ramsch“. Pathos schafft Pathos. Man müsse die „aufsehenerregenden Interventionen des Herausgebers“ nicht immer goutieren, „um dringend zu wünschen, dass die Wirkung seines Artikels zugunsten einer ‚verramschten‘ Demokratie nicht mit dem Szenenwechsel verpufft“. Das griechische Desaster sei eine deutliche Warnung vor dem „postdemokratischen Weg, den Merkel und Sarkozy eingeschlagen haben“. Wenn Habermas stattdessen ein demokratisches Europa anmahnt, das deutlich anders aussehen, aber keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundestaates annehmen müsse, wird sein Ton leider etwas raunend:
„Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das verlangt allerdings von den politischen Eliten nicht nur den üblichen Spagat zwischen Bürgerinteressen und dem Rat der Experten. Die erneute Anbahnung eines verfassungsgebenden Prozesses würde vielmehr ein Engagement verlangen, das von den Routinen des Machterhalts abweicht und Risiken eingeht. Dieses Mal müssten die Politiker in der ersten Person sprechen, um die Bürger zu überzeugen.“ Das könnte ein skurriles Wunschkonzert werden.
Postdemokratie?
Wer in den zitierten Erörterungen von Frank Schirrmacher und Jürgen Habermas jeden Hinweis auf einen möglichen oder unmöglichen Umgang mit dem konkreten Problem der griechischen Überschuldung und deren Folgen für Griechenland, den Euro und die EU vermisst, sollte das nicht einer willkürlichen Auswahl der Zitate zuschreiben. Nein, es gibt diese Hinweise in den genannten Texten nicht. Die Autoren interessiert nur das Verfahren. Das Problem und dessen Behandlung selbst sprechen sie nicht an.
Das vorgeschlagene Referendum hätte seine eigenen Tücken gehabt. Nüchtern macht FAZ-Leser Lämmel aus Seeheim-Jugenheim auf sie aufmerksam und merkt an, auch „Habermas sollte sich an die Fakten halten“ (12.11.) Faktum ist, dass der Ausgang der Volksabstimmung entscheidend von der Frage abgehangen hätte, die dem Volk gestellt worden wäre. Hätte man über die Mitgliedschaft im Euroraum abstimmen lassen, wäre mit großer Sicherheit ein „Ja!“ herausgekommen, das aber nichts über eine Zustimmung zu den konkreten Sparmaßnahmen ausgesagt hätte. Wäre aber danach gefragt worden, ob die die Sparmaßnahmen akzeptiert werden, hätte das vermutliche „Nein!“ nichts bedeutet für die Mitgliedschaft in der Eurozone, die das Sparpaket gerade sichern soll. Leser Lämmel folgert: „Die widersprüchliche Haltung der griechischen Bevölkerung – Ja zum Euro, Nein zum Sparpaket – zeigt die Fragwürdigkeit von Referenden, die bei ein und demselben Problemkomplex je nach Fragestellung zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen.“ Es sei deshalb auch nicht „postdemokratisch“, wenn man so schwerwiegende Entscheidungen den Parlamenten überlässt, deren Abgeordnete „immerhin für eine Legislaturperiode“ gewählt worden sind. Man kann hinzufügen, dass sie für die Entscheidung auch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden können. Stellt sich dagegen das Ergebnis einer Volksabstimmung in einer „Schicksalsfrage des Landes“ als folgenreicher Irrtum heraus, muss es nachher niemand gewesen sein, der ihn zu verantworten hat.
Referenden sind gut für Fragen, die mit einem Ja oder Nein abschließend entschieden werden. Doch egal was herausgekommen wäre bei der Abstimmung „über so komplexe Fragen wie die Zugehörigkeit Griechenlands zur Eurozone und die damit verbundenen Opfer“, die Scherben hätte nachher doch ein Parlament und eine alte oder neue Regierung zusammenlesen müssen. An der Notwendigkeit, sich mit den äußeren Unterstützern zu verständigen und ihnen gegenüber Verpflichtungen zu übernehmen, hätte das Ergebnis nichts geändert. Soziale Bewegungen, auf die Habermas seine europäischen Hoffnungen setzt, erhalten ihr Gewicht gegenüber Parlament und Regierung als den Institutionen der Volkssouveränität und nicht dadurch, dass sie sich an ihre Stelle zu setzen versuchen.
Die Neigung, statt sich konkreten Problemen und Fehlern zu stellen, mit Verfahrensfragen und Allgemeinplätzen auf ein anderes Feld auszuweichen, ist natürlich nicht auf Intellektuelle beschränkt. Die CDU etwa hat gerade auf ihrem Parteitag in dem Beschluss „Starkes Europa – Gute Zukunft für Deutschland“ unter Punkt III.11 „Die Folgen rot-grüner Regelverstöße“ festgehalten: „Rot-Grün hat durch eine unverantwortliche Schuldenpolitik und die Aufnahme Griechenlands in den Euroraum gravierende Fehlentscheidungen getroffen. Sie haben dem Stabilitätsgedanken schweren Schaden zugefügt und die Fundamente des Euro geschwächt.“ Zu würdigen, dass die rot-grüne Bundesregierung aus der wachsenden Staatsverschuldung so einschneidende Konsequenzen zog, dass es Rot-Grün die Regierung kostete, den nachfolgenden Regierungen aber Spielraum verschaffte, kann man von einem CDU-Parteitagsbeschluss nicht verlangen.
Erwarten kann man aber, dass die CDU erklärt, wie sie den von ihr angeprangerten europapolitischen Fehler, Griechenland in die Eurozone aufgenommen zu haben, korrigieren will. Eine konkrete Antwort wird man in dem Beschluss nicht finden. Diese Weigerung, sich konkreten Fehlern zu stellen und sie als solche zu korrigieren, ist der eigentliche „Schamfleck einer Währungsgemeinschaft ohne Politische Union“, von dem Jürgen Habermas spricht. Diese Weigerung zu beenden, wäre entscheidend, um mit der politischen Union ernst zu machen, die die EU und in ihrem Rahmen die Eurozone ihrer Bedeutung nach längst ist. Worum geht’s denn auf all den Gipfeln sonst als um politische Entscheidungen? Leider oft auch darum, wie man sie vermeiden kann.
Lahmende Avantgarde
Es hat eine Weile gedauert, bis erkannt wurde, dass in der temporär gedachten Differenz von Euroraum und EU eine Spaltungstendenz angelegt sein könnte. Der Euroraum war als Avantgarde einer schließlich die ganze EU umfassenden Wirtschafts- und Währungsunion gedacht. Je mehr sie sich in ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten verstrickt, desto weniger kann sie diese Aufgabe erfüllen. Aus der gedachten Avantgarde droht ein tauber Kern zu werden und das hat den Fehler, Griechenland aufzunehmen, durchaus zum Ausgangspunkt. Wie die erhoffte Avantgarde sich in einen tauben Kern zu verwandeln droht, behandelt mein Artikel im soeben erschienenen boell-thema zu Europafragen.
Wenn Joschka Fischer nun einen Vorschlag lanciert, wie der Euroraum wieder die Rolle eines Motors der Integration übernehmen könne, hätte er über dieses Problem nicht stillschweigend hinweg gehen dürfen. Das macht er aber bei seinem Vorschlag für eine europäische Regierung. Die Zeit (10.11.) hat das Interview mit Fischer unter das Motto „Vergesst diese EU!“ gestellt. Das ist ein bisschen „verkürzt“ wiedergegeben, was Fischer sagt. Doch so ähnlich hat er sich schon ausgedrückt: „Vergessen Sie die EU der 27!“ Leider. Aber ich sehe einfach nicht, wie diese 27 Staaten gemeinsam irgendeine bedeutsame Reform hinbekommen.“ Dann erklärt er, man müsse eine Avantgarde bilden. Während die Eurozone gerade dabei ist, diese ihr politisch zugedachte Rolle zu verspielen, will er sie ihr institutionell verschreiben. In Analogie zum Schengen-Abkommen, das - mit zwischenstaatlichen Abkommen beginnend - schließlich einen gemeinsamen Raum freier Bewegung schuf, der dann zur Errungenschaft der EU wurde, sollten die Mitglieder der Euro-Staaten erst mal eine eigene gemeinsame Regierung bilden. Auf diesem Umweg könne man dann wieder nach Brüssel gelangen. Von einer gemeinsamen Regierung konnte bei Schengen freilich keine Rede sein. Die Analogie ist unangebracht.
Fischer geht locker darüber hinweg, dass der Euroraum von Anfang an Bestandteil der europäischen Verträge und heute des Lissabonner Vertrages ist. Die Regierung des Euroraumes müsste auch ein bisschen mehr umfassen als die Regelung der Grenzkontrollen. Wahrscheinlich ungewollt läuft Fischers Vorschlag darauf hinaus, aus einem Nacheinander (im Jargon: einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten) und einem verschachtelten Ineinander (im Jargon: einem Europa unterschiedlicher Geometrie) ein Nebeneinander zwei er verschiedenen Europas zu konstruieren.
Im Euroraum soll eine gemeinsame Regierung das europäische Regieren in der EU ablösen und die EU einstweilen vergessen lassen. Scheinbare Nebenfragen, wie die der demokratischen Kontrolle der vereinigten Regierungschefs der Eurozone, sollen durch die beratende Teilnahme der parlamentarischen Platzhirsche an den Gipfeltreffen der Eurozone gesichert werden. Als hätten sie die Zustimmung der nationalen Parlamente qua Amt im Gepäck und würden so die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Regierung der Eurozone sowohl erleichtern als auch legitimieren. Ein schöner Ersatz für das Europäische Parlament! Die etwas unsittliche Vermischung von gemeinsamer Exekutive der Eurozone und nationaler Legislative in einem Entscheidungsklüngel, scheint Fischer nicht zu stören.
Joschka läuft wieder, lässt der Spiegel (14.11.) wissen, und beim Laufen im vernebelten Grunewald sei ihm sein Konstrukt eingefallen. Dabei ist er einfach den Weg von der EU zur EG zurückgelaufen. Die hat vor Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament genau so funktioniert. Mehrheitsentscheidungen gab es da nicht.
Aber vielleicht sollte man sich weniger an der institutionellen Konstruktion von Fischers Vorschlag als an deren politischen Konsequenzen stören. Die Zusammensetzung der Eurozone erweist sich ja zumindest durch die Mitgliedschaft Griechenlands als einigermaßen willkürlich und elementar gefährdet. Und wie soll ein politischer Kern der EU ohne Polen als Avantgarde der europäischen Integration wirken?
Eine Lösung der akuten Probleme der Eurozone und damit der EU in neuen institutionellen Konstruktionen zu suchen, wird wohl schief gehen. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird ohne eine Korrektur des Anfangsfehlers, sie an einen wirtschaftlichen, vor allem aber politischen Nachzügler wie Griechenland zu fesseln, in die ihr zugedachte Rolle einer Avantgarde kaum zurückfinden können. Vielleicht muss man sich für diese Einsicht einfach die Bilder der Vereidigung der neuen griechischen Regierung durch die hohe orthodoxe Geistlichkeit vor Augen führen. Griechenland ist immer noch mehr Gemeinde als moderner Staat.
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Staatsschuldenkrise im Euroraum: Verfahrensfragen als Vermeidungsstrategie
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